An einem heißen Sommertag suchte ein alter Mann nach Abkühlung und ging in einen Keller hinab. Im Moment des Hinabsteigens sah er nichts – alles war in Dunkelheit gehüllt. Eine Stimme rief ihm aus der Tiefe zu:
„Hab keine Angst! Wenn sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, wirst du sogar Schwarz als hell empfinden.“ Der alte Mann zögerte, dann antwortete er: „Genau das befürchte ich.“ Und kehrte um. Die Gefahr besteht nicht nur in der Dunkelheit selbst, sondern darin, dass wir uns an sie gewöhnen – bis sie uns wie Licht erscheint.
An Pessach feiern wir den Auszug aus Ägypten – auf Hebräisch Mizrajim, was wortwörtlich „Ort der Enge, Bedrängnis“ bedeutet. Unser Volk trat in jener Nacht aus der Rolle der Versklavten heraus, brach alte Fesseln und wurde zu einem freien Volk. Pessach ist der Moment, in dem Ketten gesprengt wurden – der Beginn von Freiheit und Verantwortung.
Auch im Leben jedes Einzelnen gibt es solche Auszüge aus Mizrajim. Es gibt Zeiten, in denen wir in einem Zustand leben, der uns quält – der zur inneren Dunkelheit wird, in der es kein Licht, keine Hoffnung gibt. Doch dann – manchmal durch einen Schrei, manchmal durch eine leise Erkenntnis – gelingt es uns, den Teufelskreis zu verlassen. Es gelingt uns, unsere Angst in Worte zu fassen, so dass sie von jemand anderem gehört werden kann.
Wie es im Buch Bemidbar (20:16) heißt:
„Und wir schrien zum Ewigen, und er hörte unsere Stimme, sandte einen Engel und führte uns aus Ägypten.“
Ein solcher Auszug braucht Zeit. Doch eines Tages wird man frei. Und dieser persönliche Auszug ist an kein festes Datum gebunden – er kann an jedem Tag des Jahres geschehen. Unsere Vorfahren haben ihn im Frühling vollzogen, am 14. Nissan – heute. Und wir erzählen unseren Kindern, dass Befreiung möglich ist. Dass sogar tiefste Verzweiflung überwunden werden kann. Dass Sorgen sich auflösen können – wie Feinde im tobenden Meer.
Die Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe, die aus dieser Erfahrung erwachsen sind, haben sich über alle Völker und Kulturen verbreitet. Nach Jahren voller Kriege und Verfolgung stehen wir heute – vielleicht – an der Schwelle zur Erlösung. Viele Rabbiner glauben, dass unsere Generation diejenige ist, die die letzte Erlösung der Menschheit erleben kann.
Dieser Wandel betrifft alle Bereiche unseres Lebens – persönlich, gesellschaftlich, politisch, sogar technisch. Dennoch gibt es weiterhin Menschen, die andere unterdrücken, die Natur ausbeuten und ihre eigenen Interessen über das Gemeinwohl stellen. Eine Welt, die sich der Erlösung nähert, kann die Schwelle der Gier und der Selbstverwirklichung auf Kosten anderer nicht überschreiten.
Gleichzeitig gibt es überall auf der Welt Menschen, die nach innerem Wandel suchen. Sie wollen sich weiterentwickeln, den Sinn des Lebens verstehen. Statt zu klagen oder Schuldzuweisungen zu machen, übernehmen sie Verantwortung – für sich selbst und ihre Umgebung. Sie versuchen, ihre Welt zu verbessern. Wenn das gelingt, dann sind wir der verheißenen Welt der Propheten nahe.
Wie es beim Propheten Jesaja (Kapitel 11, Vers 9) heißt:
„Sie werden nichts Böses tun und nicht verderben auf meinem heiligen Berg; denn die Erde wird erfüllt sein mit Erkenntnis des Ewigen, wie Wasser das Meer bedeckt.“
Wenn wir die besondere Zeit, in der wir leben, wirklich verstehen würden, könnten wir bewusster zu dieser Befreiung beitragen. Indem wir unsere Augen und Herzen öffnen und versuchen, diese Welt zu gestalten – als Ort der Freiheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe!
Das ist nicht immer leicht, besonders wenn wir mit Schuldgefühlen oder der Last der Vergangenheit zu kämpfen haben. Manchmal glauben wir, dass das Leben, das wir führen, eben „so ist“ – dass wir uns daran gewöhnt haben.
Doch es braucht nur einen kleinen Schritt. Vielleicht ist es ein Vortrag über ein Krisengebiet. Vielleicht ist es ein Gespräch über jüdische Werte in der Gemeinde. Der erste Schritt ist die Erkenntnis: Dieser Zustand ist noch Dunkelheit – nicht das Licht. Und dann folgt der nächste Schritt: die Welt nicht eng, sondern im größeren Zusammenhang zu betrachten. Das große Bild zu sehen. Einen Moment innezuhalten – und sich zu fragen, wohin man wirklich gehen möchte.
Machen wir diese Welt zu einem Ort von Brüderlichkeit und gegenseitiger Hilfe – einem Ort ohne Egoismus, ohne Aggression. Es gibt Hoffnung – auf Heilung, auf Wohlstand, auf Gerechtigkeit und auf Befreiung.
Pessach Sameach!
Rabbinerin Alina Treiger 5785