Es gibt Momente, in denen Worte zu schwach erscheinen für die Last, die sie tragen sollen. Wir erleben gerade einen solchen Moment.
Seit dem 7. Oktober kehren viele von uns immer wieder in die Stille zurück – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil die Trauer zu vielschichtig ist, die Verantwortung zu komplex und die lauten Stimmen um uns herum kaum Klarheit zulassen. Wir stehen kollektiv zwischen dem erschütternden Trauma des brutalen Hamas-Angriffs, dem unerträglichen Schicksal der noch immer unter der Erde gefangenen Geiseln und den verlorenen Leben in Gaza – unschuldigen Leben, Zivilisten, Menschen, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes.
Wie können wir als liberale Rabbinerinnen und Rabbiner in einem solchen Moment unsere Stimme finden?
In der Parascha Schemot, als Moses dem brennenden Dornbusch begegnet, ruft Gott ihn bei seinem Namen. Moses antwortet: „Hier bin ich.“ Doch als Gott ihn auffordert zu sprechen – zu Pharao zu gehen und Unrecht entgegenzutreten –, zögert Moses: „Ich bin kein Mann der Rede… schwer von Mund und schwer von Zunge“ (Ex 4,10).
Ist das nicht auch unser Gefühl heute? Gerufen, aber nicht sicher, ob wir fähig sind. Gedrängt zu sprechen, aber unsicher, ob wir klar genug, sicher genug, gerecht genug sprechen können.
Und dennoch spricht Moses schließlich. Unvollkommen, zögernd, manchmal sogar voller Zorn. Doch er lernt, in einem spannungsreichen Raum zu stehen – zwischen Menschen und Macht, zwischen dem Leid seines Volkes und den Forderungen seines Gewissens. Genau das ist auch unser Raum.
Die Central Conference of American Rabbis (CCAR) hat diese Spannung klar formuliert: „Wir stehen voller Schmerz an Israels Seite – und zugleich voller Schmerz angesichts des Leids unschuldiger Menschen in Gaza.“ Ähnlich schrieb Rabbi Josh Weinberg von ARZA: „Wir werden nicht aufgefordert, zwischen Empathie für israelische Juden oder palästinensische Zivilisten zu wählen. Unsere Tradition verlangt von uns, beides miteinander zu halten.“
Um unsere Stimme zu finden, müssen wir zunächst diese falsche Entweder-oder-Haltung ablehnen. Wir geben unsere Solidarität mit Israel nicht auf, wenn wir seine politische Führung kritisieren. Ebenso wenig verraten wir unser Judentum, wenn wir um die Toten in Gaza trauern. Kol demamah dakkah – die leise, feine Stimme – genau dort ist oft die moralische Wahrheit zu hören.
Wir müssen klar benennen, was wir sehen: Eine zunehmend autoritär handelnde israelische Regierung, die nicht nur Gaza unter Druck setzt, sondern auch Dissens, Demokratie und jene Werte bedroht, die den jüdischen Staat ursprünglich ausmachen. Zugleich sind wir emotional, spirituell und historisch verbunden mit einem Volk, das immer noch vom 7. Oktober tief erschüttert ist, und mit Familien, deren Angehörige noch immer in den Tunneln der Hamas eingeschlossen sind. Unser Herz schmerzt in mehr als nur eine Richtung.
Dies ist kein Moment zum Schweigen. Aber es ist ebenso kein Moment für laute Rhetorik. Es ist vielmehr ein Moment für Kavod, Würde – in unseren Worten, unserem Ton, unserer Verantwortung.
Lassen wir nicht zu, dass andere unsere moralische Haltung für uns definieren. Unsere Aufgabe als Rabbinerinnen und Rabbiner ist es nicht, die öffentliche Meinung nur widerzuspiegeln, sondern sie zu positiv zu gestalten. Wir müssen Torah und Realität in einen konstruktiven Dialog bringen und unseren Gemeinden helfen, das ebenfalls zu tun.
Möge es Gottes Wille sein, dass wir alle den Mut finden, zu sprechen – nicht perfekt, aber aufrichtig.