Liebe Freundinnen und Freunde,
am Sonntagabend, dem 1. Juni 2025, beginnt Schawuot – das Fest, an dem wir den Empfang der Tora feiern. Der Sinai-Moment wird in der Tora mit gewaltiger Intensität beschrieben: Donner, Blitze, bebende Erde. Das Volk steht am Fuß des Berges (Ex 19,17), bereit, etwas Unfassbares zu empfangen.
Doch eine rabbinische Lesart bringt eine überraschende Wendung: „am Fuß des Berges“ lässt sich auch lesen als „unter dem Berg“. Der Midrasch (Mechilta de-Rabbi Jischmael) erzählt, der Berg habe über dem Volk geschwebt wie ein umgestülptes Gefäß. Das klingt beunruhigend. Aber es ist mehrdeutig. Der schwebende Berg kann auch als Schutz gedeutet werden, als Zelt, als Chuppa, der Baldachin einer symbolischen Hochzeit zwischen Gott und Israel.
Rav Awdimi im Talmud (bSchabbat 88a) sieht darin jedoch eine Bedrohung: Gott fragt – nehmt ihr die Tora an, oder stürzt der Berg auf euch herab? Die Rabbinen scheuen sich nicht, diese Spannung zu benennen: War das wirklich ein freier Entschluss? Können Entscheidungen unter Druck legitim sein?
Diese Fragen sind bis heute aktuell. Wie oft übernehmen wir Überzeugungen, die wir nicht selbst gewählt haben? Wie oft fügen wir uns Regeln, nur weil sie „immer schon da waren“?
Und doch, vielleicht ist das gar kein Mangel. Vielleicht ist dieser „Zwang“ nicht das Gegenteil von Freiheit, sondern ihre Voraussetzung: eine unausweichliche Verantwortung. Wir sind hineingestellt in eine Geschichte, eine Tradition, einen Bund. Die Tora ist nicht bloß ein Gesetzbuch, das wir wählen oder ablehnen können. Sie ist ein Vermächtnis, das uns anvertraut wurde – mit der Aufgabe, es immer neu zu deuten, zu hinterfragen, zu beleben.
Nicht blinder Gehorsam ist das Ziel, sondern das Ringen – die lebendige Auseinandersetzung mit einem Text, der größer ist als wir. Das ist der wahre Akt der Freiheit: sich binden und dennoch fragen, glauben und dennoch denken, Überliefertes annehmen – aber nie unreflektiert.
Vielleicht stehen wir alle unter einem schwebenden Berg. Und vielleicht heißt das: Wir stehen in der Verantwortung, ohne einfache Auswege. Wir bekennen uns zu Werten wie Gerechtigkeit, Empathie und Menschenwürde nicht, weil sie bequem sind, sondern weil sie uns fordern. Und weil wir wissen, dass man auf einfache Antworten nicht bauen kann.
Religion lebt von Fragen, nicht von Gewissheiten. Gerade heute ist das wichtig, in einer Zeit, in der sich viele nach einfachen Wahrheiten sehnen. Schawuot erinnert uns: Das Judentum ist nicht nur ein Regelwerk, sondern vor allem ein Gespräch. Und wie jedes echte Gespräch braucht es Offenheit, Ernsthaftigkeit, Empathie – und Mut zur Verantwortung.
In diesem Sinne wünsche ich euch und Ihnen ein inspiriertes, ehrliches und lernendes Schawuot.
Chag Sameach!
Rabbiner Dr. Alexander Grodensky
Vorsitzender der Liberalen Rabbinervereinigung